Mangelernährung und Sarkopenie: Die Bedeutung von Muskelmasse und -kraft
Gastautor: dr. Odette Bruls, (Wissenschafts-) Journalistin, Dozentin an der Universität Tilburg
Mangelernährung und Sarkopenie: Die Bedeutung von Muskelmasse und -kraft
Bei kranken oder gefährdeten Patienten sind Mangelernährung und/oder Sarkopenie nicht immer sichtbar, aber oft vorhanden. Obwohl das Bewusstsein für diese Probleme wächst, werden sie nicht immer rechtzeitig diagnostiziert. Daher ist es entscheidend, die Anzeichen von Mangelernährung und Sarkopenie zu erkennen, wie z. B. Appetitlosigkeit und Schwierigkeiten bei körperlicher Anstrengung. Ebenso wichtig ist die einfache und präzise Messung relevanter klinischer Indikatoren wie die Menge und Entwicklung von Muskelmasse und -kraft.
Mangelernährung und Sarkopenie: Komplexe Erkrankungen mit vielfältigen Ursachen
Die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) definiert Mangelernährung als einen akuten oder chronischen Zustand, der durch ein Defizit oder Ungleichgewicht an Energie, Proteinen und anderen Nährstoffen gekennzeichnet ist und sich negativ auf Körperzusammensetzung, Funktion und klinische Ergebnisse auswirkt (Cederholm et al., 2016). Mangelernährung gehört – wie auch Sarkopenie – zur Kategorie der „ernährungsbedingten Störungen und Erkrankungen“.
Mangelernährung ist außerdem ein Risikofaktor für Sarkopenie. Die European Working Group on Sarcopenia in Older People (EWGSOP2) beschreibt Sarkopenie als den altersbedingten, fortschreitenden Abbau von Muskelmasse, der zu einer Verringerung der Muskelfunktion führt (Cruz-Jentoft et al., 2018). Die EWGSOP2 definiert Sarkopenie als eine primäre Erkrankung, die durch das Altern entsteht. Sie kann aber auch sekundär auftreten, z. B. infolge einer Krankheit, Bewegungsmangels oder Ernährungsdefiziten (z. B. Proteinmangel). Im Krankheitsfall spricht man häufig von Kachexie.
Diagnose von Mangelernährung und Sarkopenie
Zur Diagnose von Mangelernährung und Sarkopenie haben die Global Leadership Initiative on Malnutrition (GLIM) und die EWGSOP2 einen dreistufigen Ansatz entwickelt:
GLIM-Kriterien (Mangelernährung) | EWGSOP2-Kriterien (Sarkopenie) | |
Schritt 1 | Validiertes Screening-Instrument (z. B. SNAQ, MUST, PG-SGA in den Niederlanden) | Validiertes Screening-Instrument (z. B. SARC-F-Fragebogen) |
Schritt 2 | Mindestens ein Kriterium: Gewichtsverlust, niedriger BMI, geringe Muskelmasse + ein zusätzliches Kriterium: verringerte Nahrungsaufnahme oder eine Krankheit/Entzündung | Geringe Muskelmasse und reduzierte Muskelkraft |
Schritt 3 | Bestimmung des Schweregrades anhand phänotypischer (sichtbarer) Merkmale | Bestimmung des Schweregrades anhand funktioneller Einschränkungen |
(Beaudart et al., 2019)
Wie die Tabelle zeigt, sind eine reduzierte Nahrungsaufnahme und eine geringe Muskelmasse zentrale Kriterien zur Diagnose von Mangelernährung. Ebenso sind Muskelmasse und -kraft die entscheidenden Faktoren zur Feststellung von Sarkopenie. Diese Indikatoren können mit Instrumenten wie der Bioelektrischen Impedanzanalyse (BIA) zur Messung der Muskelmasse und einem Handkrafttest zur Beurteilung der Muskelkraft erfasst werden.
Einige Bevölkerungsgruppen haben ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung und Sarkopenie. Krankheiten und Alterung sind die beiden Hauptfaktoren.
Krankheiten als Risikofaktor
Akute und chronische Erkrankungen erhöhen das Risiko für Mangelernährung und damit für Sarkopenie (Kachexie). Dazu gehören Krebs, Lungenerkrankungen, Herz- und Niereninsuffizienz, Diabetes und Magen-Darm-Erkrankungen. Diese Erkrankungen können den Stoffwechsel beeinträchtigen und die Nährstoffaufnahme verringern.
Viele Patienten haben zudem Schwierigkeiten, ausreichend zu essen – sei es durch Appetitlosigkeit, Probleme beim Kauen oder Schlucken oder durch fehlende Energie für den Einkauf und die Zubereitung von Mahlzeiten. Außerdem wird körperliche Aktivität während der Krankheit und der Behandlung oft erschwert (Roberts et al., 2021).
Altern als Risikofaktor
Eine weitere Hochrisikogruppe sind ältere Menschen. Das Altern selbst begünstigt den Muskelabbau, wenn keine Verhaltensanpassungen erfolgen. Bereits ab dem 30. Lebensjahr übersteigt der Muskelabbau die Muskelsynthese, und ohne gezielte Gegenmaßnahmen kann sich im höheren Alter Sarkopenie entwickeln (De Groot, 2023). Eine angemessene Ernährung und regelmäßige körperliche Aktivität, insbesondere Krafttraining, sind wichtige Gegenmaßnahmen.
Doch nicht alle älteren Menschen können eine ausgewogene Ernährung und ausreichende Bewegung aufrechterhalten. Auch ohne Krankheit können Kau- und Schluckprobleme sowie Appetitlosigkeit auftreten. Zudem können soziale Faktoren wie Isolation, Gedächtnisstörungen und ein geringes Einkommen zu unzureichender Ernährung und geringerer körperlicher Aktivität führen (Roberts et al., 2021).
Der Teufelskreis des Muskelabbaus: Auswirkungen von Inaktivität auf Ernährung und Gesundheit
Bewegungsmangel, egal aus welchem Grund, beschleunigt den Muskelabbau und führt zu einem Teufelskreis. Ein geschwächter Körper erschwert die Nahrungsaufnahme, und eine unzureichende Ernährung verstärkt das Energie- und Proteinungleichgewicht, was die körperliche Aktivität weiter einschränkt.
Die Auswirkungen von Inaktivität können sehr schnell auftreten: Eine Woche Bettruhe führt bereits zu einem Verlust von ca. 1,4 kg Muskelmasse. Bei einer durchschnittlichen Muskelmasse von 35 kg mit 30 Jahren oder 25 kg mit 80 Jahren ist dies ein erheblicher Verlust (De Groot, 2023).
Muskelaufbau durch Training und Proteine
Glücklicherweise kann ein Teil der verlorenen Muskelmasse durch Krafttraining zurückgewonnen werden. Allerdings benötigen ältere, gefährdete Personen oft drei bis sechs Monate Krafttraining, idealerweise kombiniert mit einer proteinreichen Ernährung (De Groot, 2023).
Proteine spielen eine entscheidende Rolle bei der Behandlung von Sarkopenie. Studien zeigen, dass eine erhöhte Proteinzufuhr sowohl für gesunde Erwachsene (Morton et al., 2018) als auch für ältere Menschen vorteilhaft ist. Die ProMuscle-Studie in den Niederlanden ergab, dass gebrechliche Senioren, die pro Mahlzeit mindestens 25 g Protein zu sich nahmen und gleichzeitig Krafttraining durchführten, ihre Muskelmasse und -kraft signifikant verbesserten (Tieland et al., 2012).
Wertvolle Daten für Prävention und Behandlung
Die Prävention und Behandlung von Mangelernährung und Sarkopenie beginnt mit einem systematischen Screening. Die Messung von Muskelmasse und -kraft sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Immer mehr Ernährungsberater und Gesundheitsfachkräfte setzen Instrumente zur Beurteilung dieser Parameter ein.
Obwohl MRT, CT oder DEXA präzise Messungen liefern, sind diese Methoden teuer, zeitaufwendig und wenig zugänglich. Die Bioelektrische Impedanzanalyse (BIA) bietet eine zuverlässige und für Ernährungsberater in jeder Situation anwendbare Alternative – auch in der häuslichen Umgebung.
Zusätzlich kann der Oberarmumfang als Indikator für die Muskelmasse dienen, während ein Handkrafttest Aufschluss über die Muskelkraft gibt.
Messen heißt wissen: Zugängliche Messinstrumente liefern wertvolle Daten zur Muskelgesundheit und ermöglichen eine gezielte Anpassung und Überprüfung der Behandlung.
Referenzen
Beaudart, C., Sanchez-Rodriguez, D., Locquet, M., Reginster, J.-Y., Lengelé, L., & Bruyère, O. (2019). Malnutrition as a Strong Predictor of the Onset of Sarcopenia. Nutrients, 11(12), 2883. https://doi.org/10.3390/nu11122883
Cederholm, T., Barazzoni, R., Austin, P., Ballmer, P., Biolo, G., Bischoff, S., Compher, C., Correia, I., Higashiguchi, T., Holst, M., Jensen, G., Malone, A., Muscaritoli, M., Nyulasi, I., Pirlich, M., Rothenberg, E., Schindler, K., Schneider, S., De van Der Schueren, M., . . . Singer, P. (2016). ESPEN guidelines on definitions and terminology of clinical nutrition. Clinical Nutrition, 36(1), 49–64. https://doi.org/10.1016/j.clnu.2016.09.004
Cruz-Jentoft, A. J., Bahat, G., Bauer, J., Boirie, Y., Bruyère, O., Cederholm, T., Cooper, C., Landi, F., Rolland, Y., Sayer, A. A., Schneider, S. M., Sieber, C. C., Topinkova, E., Vandewoude, M., Visser, M., Zamboni, M., & Writing Group for the European Working Group on Sarcopenia in Older People 2 (EWGSOP2), and the Extended Group for EWGSOP2 (2019). Sarcopenia: revised European consensus on definition and diagnosis. Age and ageing, 48(1), 16–31. https://doi.org/10.1093/ageing/afy169
De Groot, L. (2023). Sacropenie. In Soeters et al. (Red.) Leerboek voeding (pp.307-318). Bohn Stafleu van Loghum. https://doi.org/10.1007/978-90-368-2868-0
Morton, R. W., Murphy, K. T., McKellar, S. R., Schoenfeld, B. J., Henselmans, M., Helms, E., Aragon, A. A., Devries, M. C., Banfield, L., Krieger, J. W., & Phillips, S. M. (2018). A systematic review, meta-analysis and meta-regression of the effect of protein supplementation on resistance training-induced gains in muscle mass and strength in healthy adults. British journal of sports medicine, 52(6), 376–384. https://doi.org/10.1136/bjsports-2017-097608
Roberts, S., Collins, P., & Rattray, M. (2021). Identifying and Managing Malnutrition, Frailty and Sarcopenia in the Community: A Narrative Review. Nutrients, 13(7), 2316. https://doi.org/10.3390/nu13072316
Tieland, M., Dirks, M. L., van der Zwaluw, N., Verdijk, L. B., van de Rest, O., de Groot, L. C., & van Loon, L. J. (2012). Protein supplementation increases muscle mass gain during prolonged resistance-type exercise training in frail elderly people: a randomized, double-blind, placebo-controlled trial. Journal of the American Medical Directors Association, 13(8), 713–719. https://doi.org/10.1016/j.jamda.2012.05.020